“Am Ende zerbricht man doch.”

Meine Facebook Timeline ist voll. “Was ist das für 1 Schneesturm?” und “Fuck, es ist kalt.” Auf Instagram Stories werden fleißig die Rekord-Minustemperaturen gepostet und über die kleinen, nervigen Streusteinchen auf der Straße diskutiert. Großteil der Statusmeldungen posten wir, während wir gemütlich auf der Couch sitzen, in unserer warm geheizten Wohnung. Wir frieren, auf hohem Niveau. Denn für uns ist die Kälte nicht lebensbedrohlich. In Europa sind seit Einbruch der Kältewelle knapp 60 Personen erfroren. Der Großteil der Toten waren Menschen ohne Dach über dem Kopf. 

Es ist 18 Uhr, wir treffen uns bei der Gruft, einer Caritas-Einrichtung für obdachlose Menschen. Gemeinsam mit zwei SozialarbeiterInnen der Caritas steigen wir in den Kältebus, den die StreeworkerInnen jeden Abend ausführen, um hilfsbedürftige Menschen aufzuspüren. Heute wollen wir einigen Hinweisen nachgehen, die über das Kältetelefon, einer kostenlosen Hotline zur Meldung kältebetroffener Menschen, der Caritas eingegangen sind. 300 Anrufe monatlich verzeichnet die Caritas über das Kältetelefon normalerweise, bis jetzt waren es allein im Jänner über 700 Anrufe, ca. 40 pro Tag.

Unser erster Stop ist Stadlau, denn dort hat man paar Tage zuvor im Gebüsch eine Schlafstelle entdeckt, jedoch niemanden angetroffen. Als wir aus dem Kältebus aussteigen merke ich: mir ist jetzt schon kalt. Susi und ihre Kollegin bitten uns, am Rande des Gebüsches zu warten, damit sie mit ihren Taschenlampen vor gehen und die Lage abschätzen können. Während ich mit den anderen warte, entdecke ich die Umrisse einer Frau, die den Weg ins Gebüsch betreten will und bei unserem Anblick sofort kehrt macht. Martin, der Pressesprecher der Caritas, der uns an diesem Abend begleitet, läuft ihr hinterher und beschwichtigt, wir seien nicht die Polizei und wir seien da, um zu helfen. 10 Minuten später stehen wir mit Gabi, der Frau, und Laszlo, ihrem Freund, vor ihrem Zelt. Spiralförmig ist der Weg ins Gebüsch, den sich die zwei jeden Tag, seit dem 13. Dezember 2016, in ihr “neues Quartier” bahnen. Vorher waren sie in Strebersdorf, wo man bei einer Razzia der Polizei ihr Zelt samt Inhalt entsorgt hat, statt es 14 Tage in einem Depot aufzubewahren, wie vorgesehen.

Gabi erzählt, erzählt, erzählt. Wir haben alle Zigaretten dabei, das hilft, einen ersten Kontakt zu knüpfen. Ich gebe den beiden eine Memphis und Gabi fährt fort. Sie erzählt von ihrer Zeit in der Psychatrie, wo sie vergewaltigt wurde. An die vielen Suizide in ihrer Familie. Seit 2,5 Jahren ist sie nun auf der Straße, bekommt nicht mal Mindestsicherung. Trotzdem fehlt es ihr nicht an Humor: “Am 13. Juli 2014 habe ich Laszlo am Pratenstern kennen gelernt. Eigentlich wollten wir uns am nächsten Tag treffen, aber an dem Abend hat er mir sein Zelt gezeigt. Besonders die Kerzen und der Hund haben es mir angetan.” Doch Gabi ist nicht nur witzig, sondern auch hochintelligent. Sie spricht von Misanthropie und gibt eine Politik-Analyse ab, die man in der (Satire-)Zeitung lesen könnte. Ich schäme mich dafür, dass mich das für einen Bruchteil einer Sekunde überrascht.

Wieso die beiden in keine Notunterkunft gehen? Es sei schwer, als gemischtes Pärchen eine Unterkunft zu bekommen. Meistens sind Notschlafstellen exklusiv für Männer oder Frauen. “Alkohol, Männer, keine Privatsphäre” zählt Gabi auf “es ist so konfliktreich. Ich brauche Ruhe.” Auch Alkoholpsychosen seien ein großes Problem. Nach 30 Minuten des Gesprächs  spüre ich meine Zehen nicht mehr. Ich war so gebannt, dass ich vergessen habe, mich zu bewegen. Mein Blick fällt auf das Zelt von Gabi und Laszlo. Ich habe lange Ski Unterwäsche, ein paar Wollsocken, einen Wollpulli, zwei Schichten Fleece und einen warmen Winterparka. Wie zum Teufel kann man bei dieser Kälte in einem Zelt schlafen?

Susi und Martina, die SozialarbeiterInnen, hinterlassen Infomaterial, erklären, dass es Pärchenzimmer gäbe und die Wartezeit für diese bloß eine Woche beträgt. Gabi und Laszlo bedanken sich, sie lächeln. Die beiden sind wirklich sympathisch.

“Zieh deine Jacke aus, sonst ist es draußen noch viel kälter. Sowas lernt man bei der Sozialarbeit.” erklärt mir Martina, als sie die Heizung im Auto voll aufdreht. Jetzt aus meiner Jacke raus? Nagut, sie wird es wissen. Also ziehe ich Schicht für Schicht aus und warte, bis der Bus sich aufheizt. Martina hat natürlich Recht, denn als wir am Hauptbahnhof, unserer nächsten Station, ankommen, bin ich froh, dass mir warm ist und ich meine Jacke noch zusätzlich anziehen kann.

Jeden Tag, 365 Tage im Jahr, steht der Canisibus, unter anderem, am Hauptbahnhof. Bis zu 450 Menschen am Tag essen bis zu 96.000 Liter Suppe im Jahr. Der Suppenbus steht zu verschiedenen Uhrzeiten an verschiedenen Stationen, es werden zwei verschiedene Touren/Routen parallel abgefahren. “Die Caritas hilft nur Ausländern”, “Eine Schande, wie die Caritas gegen den Willen vieler Österreicher sich als zentraler Fluchthelfer engagiert!” und “Null Punkte für diesen Verein. Den Asylanten alles in Arsch reinschieben – keinen Cent mehr für diese Organisation. Österreicher zuerst!” las ich letztes Jahr. Zig Menschen gaben der Caritas schlechte Bewertungen auf Facebook, weil sie davon ausgingen, man würde der österreichischen Bevölkerung nicht helfen. Es ist 20:30 Uhr, die Temperatur ist auf unter -10 Grad gefallen und Letschosuppe wird von den Freiwilligen ausgegeben. Hinter dem Tresen steht Zaki aus Syrien. Heute ist sein 32. Geburtstag und das erste mal, das er freiwillig hilft. Neben ihm steht Stanikzai aus Afghanistan, auch er hilft freiwillig, Suppe, an vorrangig österreichische Männer, auszuschenken. “Das hier ist meine Geburtstagsparty” lächelt Zaki, der sich freut, helfen zu dürfen.

Am Hauptbahnhof lernen wir Adam kennen, Susi und Martina kommen mit ihm ins Gespräch. Er möchte nicht fotografiert und gefilmt werden, ist ein sehr zurückhaltender, höflicher Mann mit einem gewinnenden Lächeln. Er bedankt sich, traut sich kaum Augenkontakt zu halten. Man sieht ihm an, dass er sich schämt. Wir nehmen Adam mit in die Notschlafstelle im 12. Bezirk, dort gibt es 117 Schlafplätze, nachdem wir Adam dort abgesetzt haben, sind nur noch zwei frei.

Über 1000 Notschlafstellen gibt es momentan in Wien, trotzdem erhält Susi den ganzen Abend Anrufe mit Bitten, Menschen unterzubringen. Sie telefoniert sich durch zig Notschlafstellen: “Alles voll.” Einzig allein in einer Notschlafstelle vom Roten Kreuz seien noch wenige Betten frei.

Unsere nächste Station ist das Gänsehäufel. Über das Kältetelefon, welches es inzwischen auch in Kärnten gibt, kamen einige Hinweise, jemand würde dort unter einer Brücke schlafen. Wir steigen aus dem Bus aus und sehen sofort die Decken und Koffer unter der Brücke. Wir kommen näher, keiner da. Ich spüre, wie sich die Temperatur hier am gefrorenen Wasser mindestens 5 Grad kälter anfühlt. “Das ist kein guter Schlafplatz. Hier zieht es und das eisige Wasser direkt am Schlafplatz ist keine gute Idee.” Meine Zähne klappern, obwohl ich erst seit wenigen Minuten aus dem warmen Auto ausgestiegen bin. Und ich lasse es mir nochmal auf der Zunge zergehen: hier. schlafen. Menschen. Im Freien.

Susi und Martina lassen Infomaterial zu den Notschlafstellen, die sie mit leeren Bierflaschen bei den Decken befestigen. Wenn die Personen, die hier nächtigen, zurück kommen, wissen sie: es war jemand da. Anschließend fahren wir noch ein paar Adressen ab, an denen wir niemanden auffinden. Susi erzählt von ihrer Arbeit: “Es gab einen Klienten, mit dem habe ich drei Jahre lang durch eine Tür gesprochen. Er lebte viele Jahre auf einem Klo auf der Donauinsel und ich fuhr alle paar Tage zu ihm, um Vertrauen aufzubauen. Irgendwann einmal gab er mir seine Jacke mit, zum Waschen. Als ich sie ihm sauber zurück gebracht habe, öffnete er die Tür. Heute lebt er in einer Wohnung.” Dann erzählt sie von einem Pärchen, das in einem Zelt auf der Donauinsel schlief und deren Kind bei der Großmutter untergebracht war, wo es zu eng für alle vier war. “Der Vater fand keinen Job und so schliefen sie im Zelt. Die Mutter fuhr jeden Tag in der Früh in einen Supermarkt Regale schlichten und unterstützte mit ihrem Gehalt die Großmutter, die Tochter und so gut es ging sich und ihren Mann.” Oft sei es eine Frage von Anträgen, die falsch oder nicht abgeschickt worden seien, oder einfach eine Aneinanderkettung unglücklicher Zufälle. Auch hier hilft die Caritas, Licht in den Bürokratiedschungel zu bringen. Die drei-köpfige Familie lebt inzwischen in einer Wohnung.

Obdachlosigkeit hat viele Gesichter. “Der Sandler, der Alkoholiker, der Nichtsnutz, der stinkt, die ist psychisch gestört, die ist drogenabhängig, diese Pennerin.” Hilfe zu beanspruchen bedeutet, sich der Schuld- und Schamgefühle zu ergeben, die wie ein Vakuum über einen gestülpt sind. Es bedeutet, einzugestehen, dass man überfordert ist, oder mit der Situation nicht zurecht kommt. Obdachlos zu sein bedeutet, wehrlos zu sein, weil man nicht mehr weiter weiß. Obdachlos zu sein bedeutet Stigma, Vorurteil und Ablehnung. Obdachlosigkeit bedeutet, gerade im Winter, Lebensgefahr. Es ist eine Gefahr, der wir jedem Tag begegnen, die Teil des Stadtbildes sind. Und doch nehmen wir die vielen Facetten und Dimensionen von Obdachlosigkeit nicht so komplex wahr, wie sie sind. Es ist einfach zu sagen “der lässt sich halt nicht helfen, selber Schuld”, wenn man den Menschen und dessen Lebensgeschichte nicht kennt. Schuld gibt es nicht.

Es ist 23 Uhr und ich verabschiede mich von der Gruppe, ich bin zu müde und mir ist zu kalt. Ich sperre die Wohnungstür auf, blicke mich um. Das ist meine warme Wohnung. Ich schlüpfe unter die Bettdecke, langsam spüre ich meine Zehen wieder. Ich schließe kurz die Augen und stelle mir vor, ich würde da draußen, in einem Zelt, im Schnee, im Freien, im Dunklen liegen. Und kurz bevor ich wegdöse, fällt mir ein, was Gabi gesagt hat:

“Was einen nicht umbringt, macht einen nur stärker. Aber irgendwann zerbricht man dann doch.”

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Hier könnt ihr für obdachlose Menschen in Österreich spenden.