Die Kinder des Krieges

“Nirgendwo werden so viele Kinder gezeugt, wie in Refugee Camps.” Erklärt mir Aras, als wir durch Darashakran gehen. Keine Jobs, keine Beschäftigung, viel Langeweile. I get the point.

4,961,300 registrierte syrische Flüchtlinge verzeichnet die UNHCR außerhalb Syriens, rund 13,500,000 Menschen innerhalb Syriens brauchen dringende humanitäre Hilfe, ca. 8,700,000 SyrerInnen sind innerhalb des eigenen Landes geflohen. 47,6% der ins Ausland Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Laut Save The Children haben 2 von 3 Kindern in Syrien Familienmitglieder im Krieg verloren.

Krieg bedeutet für Kinder in erster Linie: eine posttraumatische Belastungsstörung, die sie vermutlich ihr ganzes Leben lang begleiten wird. Es bedeutet im schlimmsten Fall den Verlust von Eltern, Geschwistern, Eltern, lebenslange gesundheitliche Beeinträchtigung oder Behinderung. Die große Menge an Stresshormonen, die bei diesen Kindern ständig ausgeschüttet wird, kann die Entwicklung des Gehirns und gewisser Organe beeinträchtigen. Viele der Jugendlichen greifen zu Drogen, um den Alltag zu bewältigen. Es bedeutet eine Nachwuchsgeneration, die aus ihrem Bildungsweg heraus gerissen wird. Der Großteil der Schulen in Syrien ist zerstört oder wird als Notunterkunft verwendet. Es mangelt an Lehrpersonal, im Ausland kann mehr als die Hälfte der Kinder nicht zur Schule gehen und die, die es tun, steigen oft bei einem niedrigeren Bildungsniveau als in ihrer Heimat ein. In weiterer Folge sind zig Kinder des Krieges zu Kinderarbeit gezwungen, wie dieser Artikel gut erklärt.

Aras von der Rwanga Foundation geht mit mir durch das Camp, die Kinder lachen, manche spielen Murmeln, drei Mädchen springen Seil, die Große ist besonders gut darin. Ein kleines Mädchen mit wunderschönen, grünen Augen sitzt auf der Stufe – sie hat Attitude! Zuerst schaut sie etwas grantig, später erzählt mir ihre Mutter, dass sie gerne von mir fotografiert wird. An manchen Ecken sitzen die coolen Jungs, manche spielen Fußball. “Cristiano Ronaldo?” frage ich. “Madrid!” ruft er mir entgegen.

Später wohne ich dem Problem Solving Kurs bei, den die Rwanga Foundation im Camp anbietet, rund zwanzig junge Erwachsene nehmen daran teil. Für die jungen Frauen bin ich sofort ein Magnet, sie fragen mich nach meinem Namen, ob ich kurdisch oder arabisch spreche, ich bekomme zig Komplimente für mein Aussehen. Aufgrund meiner Herkunft kenne und liebe ich die warme, herzliche Art, die orientalische Frauen im Umgang miteinander meist an den Tag legen. “Where can I learn English?” werde ich gefragt. “I studied in my first year of university, then I fled, now I have been in the camp for two years and not back to University. I want to study again.” Während des Kurses schiebt mir eine junge Frau einen Zettel mit Fragen auf Englisch rüber – man merkt, dass sie einfach schreiben und lesen mit mir üben will. Wenn ich ihr meine Antwort aufschreibe und rüberschiebe, unterstreicht sie die Wörter, die sie nicht versteht. Wir lächeln uns an.

Vorgestern habe ich mir eine App runtergeladen, mit der ich Sachbücher zusammengefasst lesen kann. Ich habe bereits Stephen Hawkings “Eine kurze Geschichte der Zeit” und ein tolles Buch namens “Die Macht der Geographie” über Weltpolitik als Zusammenfassung gelesen – das Wissen innerhalb kürzester Zeit aufgesogen. Wenn ich eine Sprache lernen möchte, habe ich die finanziellen und örtlichen Ressourcen, um einen Kurs zu besuchen. Zuhause steht ein wunderschönes, voll gefülltes Bücherregal in meinem Wohnzimmer, wenn ich reise, kann ich es mir leisten, ausgelesene Bucher, für die ich 20€ hingeblättert habe, aus Bequemlichkeit, weil sie schwer sind, zurückzulassen. Während meines Studiums hat mich meine Mutter finanziell unterstützt, damit ich nur wenig jobben muss, und ich hatte immer freie Wahl, was ich studieren möchte. Ich habe und hatte immer Zugang zu Bildung. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Während des Höhepunkts der Krise rund um geflüchtete Menschen im Herbst 2015 hörte ich ganz oft, die Menschen bräuchten, wenn sie fliehen, doch nur Essen und ein Dach über dem Kopf. Smartphones seien Luxus, wenn die sich das leisten können, brauchen sie ihre Hilfe nicht. Da habe ich mir immer vorgestellt: wie lange möchte ich leben, wenn mein Leben nur aus Essen und einem Dach über dem Kopf besteht, ohne jegliche Perspektive?

Als ich klein war, hasste ich die Schule oft, aber es war das, was ich jeden Tag tat. Es war selbstverständlich wie atmen, dass ein Kind zur Schule geht – zumindest an fünf Tagen die Woche. Kinder, die nicht zur Schule mussten, beneidete ich irgendwie, ich stellte mir das romantisch Pipi Langstrumpf mäßig vor. Für die Kinder des Kriegs ist der Alltag ohne Bildung gar nicht romantisch. Es bedeutet das schmerzvolle Heranwachsen einer verlorenen Generation.