Die Stimmen, die mich heimsuchten. Ein Leben mit Schizophrenie.


Manchmal liest man was und schämt sich für die ersten Gedanken, die das Unterbewusstsein umgehend spinnt. So war es, als ich Ellas (Name v.d. Redaktion geändert) Mail erhielt. Schizophrenie. Paranoia. Psychose. Diese Begriffe erzeugten im ersten Sekundenbruchteil Respekt und ein bisschen Angst, wenn ich ganz ehrlich sein soll.

Angst vor einer Person, die vielleicht unberechenbar sein könnte. Im Nächsten Bruchteil ist die Angst verflogen und die Dankbarkeit, dass Ella sich bei mir gemeldet hat, da. Ein paar Wochen und Monate später muss ich lachen über mein Hirn und dessen erste, dumme Reaktion. Vor mir sitzt eine schöne, junge, gepflegte Frau in einem T-Shirt von Kauf Dich Glücklich, einem Dutt, einem einem süßen Kettchen mit Croissant-Anhänger und einem kleinen Tattoo einer Zitrone am Handgelenk.

 

“Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus.”

 

Was nach einem banalen Kalenderspruch klingt, ist Ellas Mantra geworden. Denn die Zitronen ihres Lebens sind keine verpassten U-Bahnen oder ein Date, das schlecht lief. Ella erkrankte als junge Frau an Schizophrenie. So wie etwa 80.000 weitere Menschen in Österreich,die von Schizophrenie direkt oder indirekt betroffen sind. Ihre Zitronen sind nicht nur sauer, sondern ziemlich bitter. Wenn Teenager verhaltensauffällig werden, sind das meistens nur die vermeintlichen Hormone. “Die spinnt halt…” oder “aus dem Alter kommt sie schon noch raus” hört man oft. Dass vor allem psychische Krankheiten wie Schizophrenie sich in der Jugend schon abzeichnen, wird oft vergessen. Selbstzweifel, Beklemmungen, Ängste – ja klar, die haben wir alle mal. 

Für Ella war es die Schule, die diese Gefühle erstmals auslöste. Gut situierte MitschülerInnen, die Ella spüren ließen, dass sie “keine von ihnen” ist und oberflächliche Freunde, die sie nicht dort auffingen, wo sie aufgefangen hätte werden sollen. 2010 bricht Ella die Schule ab, kurz darauf würgt sie ihr damaliger Freund, sie verabschiedet sich von ihm. Jede Stresssituation scheint plötzlich Auslöser für eine unkontrollierbare Negativspirale zu sein, Panikattacken werden zur Normalität. Als ihr neuer Freund ihr Drogen anbietet, denkt sie sich “schlimmer kann es eh nicht werden” und die Spirale scheint ab diesem Zeitpunkt nicht nur Negativität sondern erste Anzeichen einer Psychose mit sich zu bringen.

Die Stimmen gehören zuerst Ellas zukünftigen Kindern, mit denen sie glaubt, reden zu können. Die Stimmen werden zu Halluzinationen, die Ella vortäuschen, mit einem Bügeleisen verbannt zu werden oder die befehlen, vom Dach zu springen, um allem ein Ende zu setzen. Alles rund um Ella wird zum Feind, sogar die Familie, zu der sie daraufhin den Kontakt abbricht. Ziellos fährt die junge Frau mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch Wien, isoliert von ihrer Außenwelt. Ella und die Stimmen in der Straßenbahn.

Es folgen drei Selbstmordversuche, nach dem Letzten wird Ella ins Krankenhaus gebracht, wo ihre Stimmen behaupten, die Ärzte würden sie lebendig begraben wollen. Die zwei Wochen auf der Akutpsychatrie schmerzen Ella am meisten, es ist eine Zeit, an die sie sich nicht gerne erinnert. Es folgen Jahre der Qual, in denen Ella wieder zu ihrer Familie zieht, Freunde “aussortiert”, leidet, versucht ihre Psychose in den Griff zu bekommen. Sobald es ihr besser geht, rät ihr ihr damaliger Psychiater, die Medikamente abzubrechen und erst wieder zu nehmen, wenn sich Symptome abzeichnen. “Das ist so, wie wenn man einem Drogenabhängigen Kokain mitgibt und sagt ‘Nimm das, wenn es dir schlecht geht, also nur im Notfall.’ Mir war ohne Antipsychotika nicht zu trauen und Symptome stellen sich ja oft erst zwei bis drei Wochen nach Abbruch der Medikamenteneinnahme ein.” Kurz: der Rat des Psychiaters war extrem fahrlässig, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass ein junger Mensch in solcher Situation natürlich lieber “du bist gesund” als “du bist krank” hört.

Es folgt die schlimmste Episode von Ellas Krankheit. Martin. Martin (Name v.d. Redkation geändert) ist ein junger Mann aus dem 10. Bezirk, den Ella trifft. Sie haben Sex, das Ganze wiederholt sich ca. drei mal. Martin lässt Ella links liegen, doch die Stimmen in ihrem Kopf sagen: “Martin ist ein Gott. Du bist die Göttin.” Ella schreibt Martin ein E-Mail, sagt ihm, dass es ihr schlecht geht, dass sie ihn liebt. Seine Antwort: “Nerv wen Anderen. Bist du schizophren oder was ist mit dir los? Wieso bist du eigentlich so scheiße drauf?“.

Die Stimmen in Ellas Kopf sagen, dass Martin in jedem Mann steckt, befehlen ihr mit diesen Männern zu schlafen. Ella gehorcht den Stimmen, trifft sich mit vielen Männern zum Sex, bis zu fünf am Tag, manchmal in der Gruppe, das Ganze zieht sich über zwei Monate. Es sprach sich rum, dass es “da eine im 10. Bezirk gibt, die mit jedem ins Bett geht” mit dem Zusatz, dass diese Frau eine verzerrte geistige Wahrnehmung hätte. Ellas Realität zu diesem Zeitpunkt ist, dass in jedem dieser Männer Martin steckt und genau diese Tatsache wird schamlos ausgenutzt. Manche Männer rufen sogar an und geben sich als Martin aus. Aus Sicht von Ellas Therapeutin war jeder einzelne Akt ein Akt der Vergewaltigung, da es sich schlichtweg nicht um Ellas Realität handelte.

Bei diesem Teil unseres Gesprächs wird mir leicht schwarz vor Augen, vor lauter Wut, die ich plötzlich verspüre. Ich übe mich täglich in Mitgefühl, auch für Menschen, die “Schlechtes” tun, doch in diesem Moment und auch heute, empfinde ich nichts als Abscheu für die Männer, die Frau, die mir gegenüber sitzt, so ausgenutzt haben, im Wissen, dass sie krank ist. Ella erzählt mir noch einige Episoden, von gläubigen Männern, mit denen sie geschlafen hat, die zwar Sex wollten, ihr aber vorwarfen, sie würde nackt am Gebetsraum vorbei gehen. Von Vätern, verheirateten Männern, von Menschen, die eine Doppelmoral leben. Menschen, die sie erpressten, Nacktfotos ins Internet zu stellen, als sie aufhörte, mit ihnen zu schlafen. Abgesehen von den traumatischen Folgen dieser Zeit, ist Ella froh, dass sie sich mit keiner Geschlechtskrankheit angesteckt hat oder schwanger wurde. Auch dass ihr das eine mal, als sie zu einem Fremden Mann ins Auto stieg, weil ihr die Stimmen versicherten, er sei lieb und nett, nichts passiert ist, gleicht einem Wunder.

 

“Ich habe in meinen Psychosen teilweise lebensgefährlichen Quatsch gemacht. Ich bin jedoch nicht verantwortlich dafür. Es ist schwer zu begreifen, aber in einer Psychose leiten einen die Stimmen im Kopf und nicht mehr das eigene ‘Ich’.”

 

Heute besucht Ella eine Tagesstruktur, wo sie einer Beschäftigung nachgeht, gemeinsam mit anderen Menschen, die etwas Zeit und Verständnis brauchen, um wieder in ein geregeltes Leben einzusteigen. Die Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischen Einschränkungen, in die sie 2016 zog, konnte sie inzwischen schon verlassen um Ende letzten Jahres endlich eine eigene Wohnung zu beziehen. Mala sitzt  während unseres Gesprächs bei Ella, direkt unter ihrem Sessel, sie scheint sie sehr zu mögen. “Es ist so komisch, so einen kleinen Kopf zu streicheln” lacht die junge Frau, die selbst zwei Katzen Zuhause hat. “Meine Katze und Kater füllen meine Wohnung mit leben” lächelt Ella mild.

Am meisten berührt mich aber Ellas Bescheidenheit. “Manchhmal spiele ich auch mit dem Gedanken die Tagesstruktur zu verlassen und irgendwas Wichtigeres zu machen – zum Beispiel feministische Texte zu schreiben, oder an den Küsten Griechenlands den Menschen zu helfen, im Zuge von Menschenrechtsorganisationen. Doch oft bremst mich ein anderer Gedanke – ich muss auf meine Gesundheit und meine Belastbarkeit achten.”

 

“Wir haben alle ein bisschen ‘Ich will die Welt retten’ in uns. Aber es ist okay, wenn du erstmal nur einen Menschen rettest. Und es ist okay, wenn dieser Mensch du selbst bist.”

 

Die Krankheit hat Ella vor allem eines gelernt: Empathie. Sich selbst, ihrer Umwelt und Menschen gegenüber. Es ist ein langer Prozess, vor allem wenn die Belastbarkeitsgrenze so niedrig geworden ist. Ella versucht es mit Geduld, Feingefühl und Liebe sich selbst gegenüber, auch wenn sie sich für viele Dinge heute immer noch schämt. Viele Psychologen sagen, dass das, was man während einer Psychose auslebt, innere Bedürfnisse und Wünsche sind, die man sich nie traut auszuleben. “Ich sehe es eher so, dass die Umwelt Vieles nicht zulässt. Bestimmt habe ich während meiner Psychose den Sex auch mal genossen, aber als Frau ist man trotzdem eine Schlampe.” Ella ist am Weg sich so zu akzeptieren, wie sie ist, egal ob enthaltsam oder nicht.

Was Ella Halt gibt? Klingt unromantisch. Es sind die Medikamente, die sie zwei mal täglich einnimmt. Ohne diese wäre ein Leben, wie sie es jetzt führt, nicht möglich. Ella lacht: “Ich nehme euch, damit ihr mir dieses Leben ermöglicht.” Mit dieser Antwort hätte ich nicht gerechnet, doch es ist das Schönste, Rohste und Ehrlichste, was ich seit Langem gehört habe. Neben den Medikamenten sind es ihre Familie, ihre Katzen und vor allem andere Frauen, die ihr Mut geben. Frauen, die sie bestätigen so sein zu dürfen, wie sie ist. Frauen, die ihr helfen, sich nicht schämen zu müssen und zu ihrer Verletzlichkeit zu stehen. “Oft ärgere ich mich, dass ich in meiner Haut stecke, aber ich lerne lockerer mit mir selbst umzugehen.”

Von der Zukunft und vom Umgang mit Schizophrenie-Erkrankten wünscht sich Ella mehr, als sie erfahren durfte. Auf der einen Seite eine fundierte, umfangreiche Beratung durch ÄrztInnen. Bei Ellas erstem Aufenthalt im Krankenhaus wurde ihr ein Flyer zum Umgang nach einer Trennung in die Hand gedrückt, das würde ihr helfen. Ella wünscht sich, dass Betroffene wissen, wo und wie sie Hilfe bekommen, vor allem außerhalb der Psychatrie, wenn sie auf sich alleine gestellt sind. Sie wünscht sich Aufklärung darüber, was passiert, wenn Medikamente nicht mehr eingenommen werden, damit anderen Menschen nicht das passiert, was ihr passierte. “Hätte ich von Anfang an eine adäquate ‘Einführung’ in das Krankheitsbild bekommen, wäre vielleicht Vieles anders gekommen.”

Ella wünscht sich, dass sie eines Tages ohne Scham sagen kann, dass sie Schizophrenikerin ist und sie das noch lange nicht zur aggressiven Mörderin macht. Sie möchte nicht ausgelacht oder verurteilt werden, weil sie in einer Psychiatrie war. Auch der Irrglaube, dass SchizophrenikerInnen eine gespaltene Persönlichkeit hätten, macht Ella traurig, weil es, wie so viel rund um das Stigma von Betroffenen, nicht stimmt. Das Stigma diskriminiert, auf so vielen Ebenen. Ella weiß, dass sie bei einem Bewerbungsgespräch lieber nicht offen über ihre Krankheit sprechen sollte und dass das Kennenlernen neuer Menschen immer überschatten wird, wenn der Elefant plötzlich im Raum steht – Schizophrenie. 

 

“Seid umsichtiger mit euch selbst und denen, die Unterstützung, eine Umarmung oder ein lieb gemeintes Wort, eine Arbeitsstelle, einen Kindergartenplatz für ihr Kind brauchen, oder einfach respektiert und gleich behandelt werden wollen, wie wir es als Menschen verdienen. Das brauchen nicht nur SchizophrenikerInnen, sondern wir alle.”

 

Ich kenne Ella nicht, ich habe eine knappe Stunde mit ihr verbracht, in der ich tiefe Einblicke in das Leben einer Fremden erhielt. Doch wie so oft wird das Fremde zum Vertrauten, wenn man versucht zu verstehen, zu fühlen, zu hören. Gerade deshalb ist der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen oft so schwierig. Es ist fremd, wir kennen es nicht. Doch vielleicht schaffen wir es alle uns ein Beispiel an Ella zu nehmen und das nächste mal, wenn wir einem psychisch erkrankten Menschen treffen, etwas mehr Akzeptanz und Liebe walten zu lassen. Selbst, wenn es uns fremd ist und Angst macht.

 

Mein größter Dank gilt an dieser Stelle Ella, die sich mir nicht nur anvertraut, sondern mir auch sehr viel Neues für die Zukunft gelehrt hat.


 
 
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Beratungsstellen:

 

Wissenswertes:

In Europa leiden 1,8% der Bevölkerung an Schizophrenie, trotzdem gibt es kaum Selbsthilfegruppen. Die Krankheit tritt meist im jungen Erwachsenenalter auf, entweder akut ausbrechend oder schleichend, kaum spürbar. Die Vorphase, auch Prodromalphase, zeichnet sich durch Empfindlichkeit, Angespanntheit, Interessenverlust, aber auch fortschreitender Fehleinschätzung der Wirklichkeit aus. Von einem akuten Schub oder einer Psychose spricht man, wenn Symptome wie Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Denk- und Konzentrationsstörungen eintreten, die Krankheit also ausbricht. Nach einem Schub lassen die Symotome meist nach, bei manchen Menschen bleibt jedoch eine Restsymptomatik vorhanden.

Man unterscheidet bei Schizophrenie zwischen Negativ- und Positivsymptomen. Die Begriffe “positiv” und “negativ” haben aber in diesem Fall nichts mit einer Wertung zu tun, Negativsymptome treten meist vor den Positivsymptomen auf, welche sich während eines akuten Schubs bemerkbar machen. Außerdem sind Negativsymptome medikamentös kaum bis gar nicht behandelbar, was für die Patienten besonders schwierig ist.

Zu den Negativsymptomen gehören:

  • Konzentrationsschwäche
  • Nervosität
  • Schlafstörungen
  • Antriebsverlust
  • Willensschwäche.
  • Sozialer Rückzug
  • Spracharmut
  • mangelnder Körperhygiene
  • Empfindsamkeit und Verletzbarkeit sind stärker ausgeprägt

 
Positivsymptome zeichnen sich aus durch:

  • Halluzinationen
  •  Wahnvorstellungen
  • Bewegungsstörungen
  • Halluzinationen als Stimmen
  • optische Halluzinationen (selten)
  • Paranoia
  • Reales von Irrealem ist schwer zu unterscheiden
  • Ich-Störung: die eigene Persönlichkeit erscheint gespalten und unwirklich; der Betroffene fühlt sich als nicht sich selbst. Sie erleben sich selbst und ihre Umwelt als unwirklich und fremd.
  • Störungen im Denken und Sprechen: Gedanken sind zerfahren, zusammenhanglos, unlogisch, Gedanken brechen ab, Begriffe verlieren ihre Bedeutung. Häufig haben Betroffene das Gefühl, dass andere Menschen ihre Gedanken lesen oder beeinflussen können. Die Sprache kann skurril sein, z.B. werden neue Wörter erfunden, Wörter werden durcheinandergewürfelt oder der Satzbau ist zerstört.
  • Störungen des Gefühlslebens: starke Stimmungsschwankungen, wobei die Stimmungslage nicht immer der Situation entspricht (z.B. Patient erfährt etwas Trauriges und lacht dabei). Depressive Stimmungen oder Angst kommen häufig vor.
  • Verlust des Bezugs zur Wirklichkeit (Autismus): Patient zieht sich in seine eigene Welt zurück. Der Patient wird gleichgültig, wirkt wenig interessiert, freudlos und ist unfähig Nähe zu empfinden.
  • Fehlende Fähigkeit zur Abschirmung äußerer Reize was zu rascher Überforderung im Alltag führen kann

 

Eine feste Partnerschaft, ein gutes soziales Netz, weibliches Geschlecht, ein akuter Krankheitsbeginn und eine konsequente medikamentöse Therapie begünstigen die Heilungschancen. Ohne Behandlung mit antipsychotischen Medikamenten erleiden etwa 85 % der Schizophrenie-Patienten einen Rückfall, mit hingegen nur 15%.