INTERVIEW: DAS LEBEN NACH DER FLUCHT

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Zum Filmstart der Verfilmung des Lebens der Anne Frank, habe ich mich intensiv mit Frauen auseinandergesetzt, die Flucht als Teil ihrer Vergangenheit erlebt haben. Anne Frank hat mich persönlich besonders fasziniert, weil sie trotz ihrer schwierigen Situation voller Fantasie und jugendlicher Hoffnung blieb. Ich habe neben Iman aus Tschetschenien drei Frauen mit verschiedensten Backgrounds getroffen und mit ihnen gemeinsam über ihre Kindheit, Jugend und den Neuanfang in Österreich gesprochen.

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Parvin Razavi war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie aus dem Iran nach Österreich kam. Inzwischen ist Parvin nicht mehr aus der österreichischen Kulinarik-Szene wegzudenken: sie ist Kochbuchautorin, Bloggerin und Chefköchin.

Anne Frank hat als Kind in der Schule ihre Schulter ausgerenkt um Aufmerksamkeit zu bekommen. Warst du auch so extrovertiert?

Ich war irrsinnig schüchtern! Die ersten zwei Schuljahre in Teheran war ich nur darauf bedacht nicht aufzufallen. Im Iran wurden Kinder für auffälliges Verhalten schwer bestraft, mitunter sogar geschlagen. Mir war es wichtig keine schlechten Noten zu bekommen, deswegen habe ich mich sehr ruhig verhalten. Bis zum Gymnasium war ich schüchtern, dann habe ich angefangen mehr Mut zu finden und lauter zu sprechen, das hat meine Schüchternheit etwas kompensiert. Als wir nach Österreich kamen, haben wir im 19. Bezirk gewohnt, da ging es viel um Oberflächlichkeit. Nach dem Motto, wer bist du, was machst du. Mich hat das sehr verunsichert, da wir im Iran sehr gut gelebt haben und in Wien ein ganz anderes Leben hatten.

Hast du eher mit österreichischen Kindern Kontakt gehabt?

Ja. Außerdem gab es ein paar Filipinos und Perser in meiner Schule, aber ich hatte immer einen gemischten Freundeskreis. Ich hab ganz früh gespürt, dass ich anders aussehe, dass ich Ausländerin bin. Dadurch hatte ich sehr hohe Ansprüche an mich selbst und auch deshalb innerhalb von sechs Monaten Deutsch gesprochen.  Ich wollte mich unter keinen Umständen sprachlich von den anderen Kindern unterscheiden. Das führte auch dazu, dass ich sogar mit meinen Brüdern bis heute Deutsch spreche. Ich habe erst seit ich Kinder habe wieder angefangen in der Öffentlichkeit meine Muttersprache zu sprechen. Es macht dich sofort angreifbar, du wirst sofort zum Ausländer. Wenn ich Farsi mit meinen Kindern spreche, nehmen sich Menschen das Recht heraus meine Kinder plötzlich zu maßregeln. Wenn ich dann im perfekten Deutsch antworte, sagen sie nichts mehr.

Anne hatte ja im Versteck ihren ersten Kuss mit Peter. Wer war dein erster Kuss und deine erste Liebe?

Als ich zum ersten Mal verliebt war, war ich acht Jahre alt, er hieß Georg. Er war strohblond und das krasse Gegenteil von mir und von dem, was ich gekannt habe. Das hat mich fasziniert! Mein erster Kuss war dann mit 16, er hieß Thomas.

Otto Frank war ja der einzige der Familie, der überlebt hat. Er hat Annes Tagebuch zu sich genommen und später in einem Interview gesagt, dass er zwar einen sehr guten Draht zu seiner Tochter hatte, aber erst mit dem Tagebuch verstand, was wirklich in ihr vorging. Glaubst du als Mutter, dass es wirklich so ist? Dass man die eigenen Kinder nie richtig kennen kann?

Meine Kinder sind noch klein, da ist man ihnen noch sehr nah. Das Distanzieren fängt mit der Pubertät an, weil sich ihre Privatssphäre entwickelt. Ich hoffe natürlich, dass das Verhältnis zu ihnen nahe bleibt. Trotzdem finde ich, dass wir zu viel von jungen Menschen verlangen. Zu erwarten, dass sie die Facetten des tiefen Inneren, die Wünsche, die Träume, alles mitteilen, soll nicht sein. Die Eltern beurteilen ja sowas auch sofort und man muss nicht immer alles beurteilen.

Wie war das bei dir als du jünger warst?

Ich habe sehr viel für mich behalten, weil es für mich nicht immer leicht war. Man muss sich vorstellen, dass wir gezwungen waren unsere Heimat zu verlassen. Mein Herz war und ist immer noch im Iran, das ist nicht leicht. Meine Eltern haben 10 bis 15 Jahre gebraucht, um zu realisieren und zu akzeptieren, dass wir in Österreich anders aufwachsen werden, als im Iran. Ich bin zwischen zwei Kulturen groß geworden, war die Erstgeborene, auf mir lastete viel Druck und hohe Erwartungen. Die Vorstellung, die meine Familie für mich gehabt hat, war einfach eine Andere. Rückblickend muss ich aber sagen, dass meine Eltern sehr liberal waren.

Hat sich damals schon abgezeichnet, dass du mal Köchin wirst?

Nein, eigentlich erst mit Anfang 20. Ich habe mich damals stark mit biologischer Ernährung und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt, bevor es überhaupt ein Trend wurde. Den Mut Kochen zu meinem Beruf zu machen, hatte ich sehr lange nicht. Ich dachte ich werde Ärztin, so wie die meisten Kinder von Persern. Alle wurden Ärzte in meiner Familie. Dann habe ich aber mit einem Soziologie-Studium angefangen und das bis ich schwanger wurde gemacht. Meine Eltern haben immer gesagt „mit der Matura hast du noch nichts erreicht“.

Welche Rolle spielt der weibliche Teil der Geflüchteten? Welche Bedeutung hat die Frau?

Ich wünsche diesen Frauen, dass sie sich aus ihren Rollenbildern befreien können. Die Vorrausetzung dafür ist aber auch, dass die Männer ihr Rollenbild ändern. Aus meiner europäischen Prägung heraus denke ich, dass sie von der Emanzipation sehr profitieren. Ich denke Frauen sind auch leidensfähiger, alleine dass Frauen Geburt geben, macht sie belastbarer in Extremsituationen . Und darauf sollten sie bauen.

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Parisa ist im Iran geboren, in Afghanistan aufgewachsen. Sie lebt seit knapp 4 Jahren in Österreich, spricht perfekt Deutsch und möchte später einmal Medizinerin oder Pharmazeutin werden.

Anne schreibt in ihrem Tagebuch, dass sie sich verändert hat. Wie hast du dich durch die Flucht verändert?

Ich bin jetzt ganz anders als früher! Ich bin ja im Iran geboren, dann habe ich in Afghanistan gelebt, dann wieder im Iran. Wir hatten damals keine Papiere, ich durfte nicht zur Schule. Meine Freundin hat mir damals Englisch und Mathematik beigebracht. Ich durfte nie raus, es war kein schönes Leben. Seit ich 2012 nach Österreich gekommen bin, fühle ich mich zum ersten mal richtig frei. Alle Menschen hier sind so freundlich und ich traue mich viel mehr, ziehe mich anders an und wachse über mich hinaus.

Auf was bist du besonders stolz?

Darauf, dass ich jetzt so gut Deutsch spreche. Und auf meinen Charaker, weil ich es geschafft habe, sowohl meine „alte“ und meine „neue“ Kultur in mir leben zu lassen.

Als du noch in Afghanistan gelebt hast, was hast du am liebsten gemacht?

Ich habe immer schon gern gelernt. Die Zeit, als mir meine Freundin Englisch beigebracht hat, das hat mir gut gefallen.

Was ist dein Lieblingsfach?

Mathematik! Außerdem liebe ich Englisch und Deutsch.

Anne dekoriert Wände im Versteck mit Postkarten von Filmstars und Königskindern. Womit hast du deine Wände dekoriert?

Ich habe nie was dekoriert, weil ich nie ein eigenes Zimmer hatte. Ich war aber ein großer Hip-Hop-Fan, früher habe ich Farsi-Hip-Hop gehört, jetzt Englischen. Und Mohsen Chavoshi ist ein persischer Musiker, den ich sehr toll finde. Ich kann auch super tanzen!

Was sind deine schönsten Kindheitserinnerungen? Gerüche, Töne, Farben?

Ich erinnere mich an Shoppingausflüge mit meiner Mama, das habe ich am liebsten gemacht. Ich wollte immer mit ihr rausgehen und etwas Neues kaufen. Sie war die einzige andere Frau in der Familie. Ich habe keine Schwestern, sondern drei Brüder. Inzwischen habe ich aber leider nur noch zwei Brüder.

Hat deine Mama dir mal etwas Spezielles gekauft?

Ich hatte ein Paar Schuhe gesehen, die mir gefallen haben und sie angebettelt, dass sie sie mir kauft. Sie hat nein gesagt, ich war dann recht enttäuscht, doch zu meinem Geburtstag hat sie mich dann damit überrascht. Die Schuhe waren ganz simpel und schwarz, ich habe sie geliebt!

Wie hast du dir dein Leben in Wien vorgestellt? 

Mein großer Bruder ist schon seit sieben Jahren in Österreich, er war damals unter 18 als er geflohen ist. Er hat uns dann geholfen nachzukommen. Es hat aber ein paar Monate gedauert, bis wir hier waren. Und ich habe es mir ganz anders vorgestellt! Ich dachte alles wäre total grün und ich war total überrascht, dass die Frauen kein Kopftuch tragen. Das war alles neu!

Wie stellst du dir dein Leben in 5 Jahren vor?

In fünf Jahren habe ich Matura, zwei Jahre gehe ich dafür noch in die Abendschule. Danach möchte ich studieren. Am liebsten Medizin, nachdem das aber auch lange dauert, wird es dann vielleicht doch Pharmazie.

Wenn du heute in ein Tagebuch schreiben würdest, was würdest du reinschreiben?

Ich würde reinschreiben, dass ich mich total freue, dass mich eine Frau mit iranischen Wurzeln interviewt hat. Ich war total aufgeregt und bin glücklich, dass es so entspannt war und alle so nett waren.

Worauf freust du dich in den nächsten Monaten?

Mein Verlobter kommt aus Schweden und bleibt eine Woche. Als erstes möchte ich ihm Schönbrunn zeigen!

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Amra ist 1993 als damals 3-jährige von Bosnien nach Österreich gekommen. Heute arbeitet sie als erfolgreiche Journalistin für eine große Tageszeitung.

Anne Frank hat ja von klein auf geschrieben. Was hast du als Kind gemacht?

Ich habe immer sehr viel geredet, war bei jedem Kaffeeklatsch meiner Mama dabei. Als ich drei oder vier war durfte ich im Radio in Bosnien ein Lied vortragen. Das hat mich so fasziniert, dass ich ab da Radiomoderatorin werden wollte. Irgendwann habe ich festgestellt, dass meine Stimme vielleicht doch nicht so ideal ist, es war aber nach wie vor klar, dass ich etwas mit Medien machen möchte. Ich war übrigens so ein klassisches Nerdkind: habe viel gelesen und hatte wenig Freunde.

Hast du Tagebuch geschrieben? 

Ich habe ein paar mal angefangen, aber dann leider wieder aufgehört. 

Anne Frank hatte ja immer verrückte Spielideen. Einmal hat sie ihren Cousin Elias die Kleidung von der Großmutter anziehen lassen. Womit hast du als Kind gespielt?

Ich habe immer viel mit meiner Cousine gespielt, die war aber damals ein furchtbares, sehr herrisches Kind (lacht). Damals waren mein Papa und mein Opa schon in Österreich und sie haben mir Barbies und Puppen geschickt. Ich habe die Spielzeuge aber nie ausgepackt, sondern immer so gelassen, wie ich sie bekam. Vielleicht, weil es für mich das Wertvollste war. Ich habe dann kaum etwas mitgenommen, denn unsere Flucht fand mitten in der Nacht statt.

Gibt es ein Spielzeug, das dich über den Weg begleitet hat?

Ja, ein Märchenbuch. Ich weiß nicht mehr wie es hieß, denn irgendwo zwischen dem zweiten oder dritten Umzug ist es dann verloren gegangen.

Was wolltest du als Teenager werden?

Mit 12 habe ich begonnen für die Schulzeitung zu schreiben und zum Glück hatte ich in der HAK (Handelsakademie) eine sehr engagierte Deutschlehrerin, die mit mir ein Kulturportfolio angelegt hat.

Anne Frank spielte immer mit den Migrantenkindern, nicht mit den holländischen Kindern. Wie war das bei dir?

Im Kindergarten hatte ich eine beste Freundin aus Bosnien, was auch daran lag, dass Tirol zu der Zeit sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat. In den darauffolgenden Jahren habe ich aber eigentlich immer mehr österreichische Freunde gehabt.

Inwiefern hat dich dein Migrationshintergrund geprägt und verändert?

Für mich war der Anfang sehr schwer, ich habe gar keinen Anschluss gefunden. Das hat mich verfolgt, vor allem in der Schulzeit. Ich war in Tirol, wo alles nochmal konservativer ist. Anfangs habe ich mich für meinen Namen geschämt und wollte mich umbenennen lassen. Am liebsten ein möglichst langweiliger, unexotischer Name wie „Anna Müller“. Heute bin ich natürlich froh, dass ich das nicht getan habe. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich meine Herkunft und versuche sie nicht mehr zur verdrängen. Meinen Hintergrund mit zwei Heimaten sehe ich inzwischen als kulturellen Gewinn.

Was glaubst du ist für junge Frauen mit Fluchthintergrund am wichtigsten?

Frauen müssen wissen was ihre Rechte sind, damit sie sich Hilfe holen können. Dass sie sich nicht alles gefallen lassen, sich nicht nur an den Mann hängen, sondern sich auch trauen ihr eigenes Ding zu machen. Frauen gehören meiner Meinung nach mehr aufgeklärt.

 

Der Film Das Tagebuch der Anne Frank ist seit dem 3. März österreichweit in den Kinos. Zum Film-Trailer geht es hier

Photos: Samuel Colombo | Optical Engineers

// In Zusammenarbeit mit Universal & VICE //

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