WER HAT ANGST VORM SCHWARZEN MANN?

dariadariasaynotofear

“Paris, Orlando, Bruxelles,Istanbul, Nice, Munich, all events happening so close, all the time, I’m tired. When is it going to stop?”

“Can I send my 7 year old child to school and be confident he’s safe?”

“Hört das denn gar nicht mehr auf?”

“Kranke Welt!”

Gestern kamen bei einer friedlichen Demonstration in Kabul über 80 Menschen um’s Leben. Am 3. Juli riss eine Autobombe im Irak mindestens 292 in den Tot. Ende Juni kostete ein Terroranschlag in der Türkei 45 Menschen das Leben. Im April 2015 wurden 148 Studenten an der Garissa University in Kenia umgebracht. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind zwischen 155.587 und 402.819 Menschen getötet worden.

Wieso betrifft uns die Gewalt und der Krieg erst jetzt? Weil es sich um “unsere” Mitmenschen handelt? Weil es sich um EuropäerInnen handelt? “Ausgerechnet München, die Stadt, in der man sich immer so unglaublich sicher fühlt” lese ich. Plötzlich schreien alle “the world is going down”, doch was wir wirklich meinen ist: “Our western, white world is going down.” Und plötzlich haben alle Angst vorm schwarzen Mann.

Die Welt war immer schon voller Gewalt und Krieg, bloß hat es uns in unserem westlichen Elfenbeinturm und Egozentrik wenig gejuckt, wenn wieder einmal ein paar Kinder in Pakistan in die Luft gesprengt worden sind. Wieso also schreien plötzlich alle “kranke Welt!”, wenn die Welt schon lang krank ist? Politisch motivierte Anschläge gibt es in Europa schon lange, zwischen 1972 und 1988 starben in Westeuropa jedes Jahr 150 Menschen an Terroranschlägen – weitaus mehr als heute. Wie im gestrigen Beitrag der Tagesschau festgehalten wurde: in Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit am Essen zu ersticken um ein Vielfaches höher, als bei einem Terroranschlag um’s Leben zu kommen. Trotzdem lässt mich mein Facebook Feed glauben, ich würde nicht in Europa, sondern in Panictopia, dem Panikland, leben.

Es scheint mir, als würden wir uns alle blind der Bewusstlosigkeit hingeben, uns in unserer Angst suhlen, narkotisiert vor Bedrohung. Blogger, die im Mercedes Taxi in London sitzen, hashtaggen “#neverforget”, während sie ihre Gucci Bag zurecht rücken. Sie sind unfassbar schockiert von dieser Bluttat, weil es die Erste ist, die ihre blank polierte Welt erreicht. “Enjoy every moment, you never know when things might change” schreibt eine andere Bloggerin und ich frage mich: wissen wir das erst seit dem 22. Juli? Genießen wir unser Leben erst jetzt, wo jemand in München Amok läuft? Überall lese ich plötzlich Appelle, man sollte jede wertvolle Sekunde des Lebens genießen. Die Emojis sind heute nicht glücklich, sie sind bedrückt. Was die bottom line suggeriert: Der Terror könnte uns jeden Tag treffen!! (insert dramatic music)

Wir nehmen Nachrichten und Gewalt selektiv wahr: alles, was in der “dritten Welt” passiert, wird nüchtern beiseitegeschoben, denn es scheint uns wenig zu tangieren. Ich schätze Demokratie und ich schätze, dass ich in Europa bisher ein so ungefährdetes, behütetes Leben führen durfte. Ob ich in Panik und Hysterie ausbreche? Nein! Als Medienschaffende hat mich Charlie Hebdo natürlich sehr getroffen, genau so, wie es mich seit Jahren trifft, dass in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel Mexiko, BloggerInnen und JournalistInnen täglich gekidnappt und umgebracht werden. Doch man muss weder herzlos, noch von Mitgefühl befreit sein, um keine Angst vor Terror zu haben. Denn genau dort, wo gefühlt 90% meiner Facebook Freunde sich emotional aufhalten, steckt der Zweck von Terror: die Einschüchterung des Volkes. Die Bevölkerung antwortet mit Angst, die Terroristen schwelgen in Genugtuung. Und: populistische Politik lebt von dieser Angst, schlägt politisches Kapital draus, sät Angst. So wie Ursula das mit Arielle macht.

Die Hysterie der Medien haben die Ereignisse von Freitag Abend einmal mehr untermauert: Falschmeldungen, Bilder, die eigentlich aus Beirut oder Südafrika waren, der Missbrauch der Sozialen Medien auf höchstem Niveau. “Der Täter soll ‘allahu akbar’ gerufen haben! Ich hab gehört er hatte Springerstiefel an!”. Wir saugen jedes Quäntchen Information auf, die gefühlte Bedrohung ist weitaus größer, als die Reale. Die gefühlte Sicherheit? Nicht mehr da. Klar, wir können noch so oft lesen, dass Tod durch Verkehrsunfälle, Schlaganfälle, Krebs, Essen verschlucken oder Blitzschläge wahrscheinlicher sind, als der Tot durch Terror in Europa, doch beruhigen tut uns das kein bisschen. Abnehmende Kriminalität in Österreich? Quatsch! Unsere Hirne sind immun gegen Statistiken.

Wir werden uns an Terroranschläge und Gewalt gewöhnen müssen, denn München war nicht der letzte Anschlag. Es wird weiterhin unschuldige ZivilistInnen treffen und es wird weiterhin unfassbar traurig und bedrückend sein. Es wird weiterhin Irre geben, die ihren Freitot spektakulär inszenieren wollen und dabei Unschuldige mit sich reißen. Es ist verdammt traurig, was passiert, nicht nur in Europa, nicht nur seit wenigen Wochen.

Es ist okay Angst zu haben. Angst beschützt uns bis zu einem gewissen Grad, zum Beispiel wenn wir ein Kind an der Hand nehmen oder beim Überqueren der Straße vorsichtig sind. Doch wir müssen aufhören, uns in Angst zu wälzen und Hysterie auf Sozialen Medien zu entfachen. Fakt ist: wir leben nach wie vor ein sicheres, privilegiertes Leben. Wir können und sollen trauern und mitfühlen, um jedes Individuum (egal wo!), das sein Leben verliert, das macht uns immerhin zu Menschen. Aber wir müssen auch klar im Kopf bleiben, sonst hat man uns dort, wo man uns haben möchte: blind, hysterisch und völlig irrational.

#saynotofear

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