Amazonas: auf der Suche nach Gerechtigkeit und fairen Sneakern.

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“Der Spagat zwischen Slow und Fast, das ist die wahre Herausforderung” erklärt mir Sebastien Kopp, Mitgründer der Schuhmarke Veja, als wir in einem engen Bus über Landstraßen mit vielen Schlaglöchern fahren. Seit knapp 13 Jahren haben Sebastien und sein Kollege Ghislain einen Traum: diesen Spagat zu bewältigen. Slow zu sein, aber in einer Welt von Fast Fashion mithalten. Coole Modelle haben. Nicht “öko” aussehen. Bei Fashion Weeks dabei sein. Regelmäßig Kollektionen rausbringen.

Die Bio-Baumwolle kommt aus Taua, das Mesh (Netz) aus upgecycelten Plastikflaschen in Santo André, das Leder aus São Paulo, der Gummi aus dem Amazonas, die Produktion findet in Porto Alegre statt. Als Sebastien und Ghislain vor vielen Jahren selbst Audits in Textilfabriken durchführten und feststellten, dass die Welt der Mode doch nicht so luxuriös und shiny ist, wie sie scheint, war genau das ihr Traum: mit kleinen, lokalen Initiativen, Kooperativen und Betrieben zusammen zu arbeiten.

Ein Schuh beginnt bei der Sohle. Dieser ist bei Veja, je nach Modell, bis zu 60% aus Amazonas Naturkautschuk (der Amazon ist der einzige Ort auf Erden, wo Gummibäume in der Wildnis wachsen). Von 4:30 bis 15:30 Uhr arbeitet Pedro täglich, seit er 11 ist, nicht mehr zur Schule geht. Er arbeitet im Familienbetrieb, denn seine Familie sind Seringueiros, Gummizapfer. Gelernt hat er das Handwerk, als Ältester von 9 Söhnen, von seinem Vater Senhor Antonio. Pedro ist 43 und Analphabet.

Seit den 60er Jahren sterben die Seringueiros aus. Der Grund dafür: Plastik. Der vermehrte Einsatz von synthetischem Gummi, welcher aus Erdöl gewonnen wird, drückte den Preis von Naturkautschuk und somit auch die Existenz der Gummizapfer. Auch aus diesem Grund haben viele Familien die Arbeit mit Naturkautschuk aufgegeben und sich profitableren Geschäften, wie Viehzucht oder Holzfällerei, hingegeben. Das Ziel von Veja ist es, den Familien eine gewinnbringende Tätigkeit, die keine Rodung von Regendwald voraussetzt, zu ermöglichen. Aus diesem Grund zahlt die Firma den Gummizapfern mehr für ihr Produkt. 2,80 € pro Kilogramm Gummi bekommt die Familie von der französischen Schuhmarke, ein verhältnismäßig hoher Preis, wenn man den Standardpreis von 1,60 € bis 1,90 € pro Kilogramm im Rest Brasiliens heranzieht. Als Vergleich: der Preis synthetischen Gummis hängt vom Ölpreis ab und variiert zwischen 1 € bis 1,20 € pro Kilogramm.

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Der Tag beginnt für uns um 7 Uhr, wir begleiten Senhor Antonio in den Regenwald, denn Pedro ist schon längst unterwegs. Er demonstriert das Verfahren des Gummizapfens, das gekonnte Ritzen der Bahnen, durch die wenige Sekunden später das weiße Gold fließt: Latex. Ich probiere mich auch kurz, so untalentiert scheine ich nicht zu sein!

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Senhor Antonio ist 67 und hat so einige Geschichten auf Lager. Früher hatte er Probleme mit Eingeborenen, die mit Pfeilen schossen, heute sind es die großen Holzfirmen, die sein Land beanspruchen wollen. Vor drei Jahren kamen die letzten Morddrohungen. 1,80 € könnte er pro Kilogramm Rindfleisch verdienen, ein Geschäft, dem Viele in Brasilien längst nachgehen. Die Konsequenz: über 20% des Amazonas wurde bereits abgeholzt, um Rinderweiden und Futterplantagen zu bauen. Seine Freunde raten ihm, die Arbeit als Gummizapfer aufzugeben, sie befürchten, es könnte ihm wie Chico Mendes, dem Führer der Landarbeitergewerkschaft und Aktivist, ergehen. Chico Mendes wurde 1988 mit nur 44 Jahren von Großgrundbesitzern ermordet.

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Im Wald treffen wir Pedro, Senhor Antonios Sohn. Er sammelt die Flüssigkeit, die sich die letzten Stunden in den Becherchen gesammelt hat, auf. Er muss sich beeilen, denn der natürliche Gerinnungs- und somit Verhärtungsprozess des Milchsafts beginnt bald.

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Der Milchsaft wird zuerst abgesiebt, dann für mehrere Stunden in flachen, rechteckigen Behältern stehen gelassen, um sich zu verfestigen und die Form der Behältnisse anzunehmen. Die Zugabe von Flüssigrauch ermöglicht den Kautschukzapfern eine natürliche Verarbeitung ohne Zugabe von Chemikalien, genannt wird dieser Prozess FDL (Folha Desfumada Liquida – Liquid Smoked Sheet). Anschließend pressen Pedro und seine Frau die noch recht weichen “Gummiplatten” durch eine Presse, welche dann zum Trocknen aufgehängt werden.

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Klimawandel ist hier längst angekommen. “Es regnet nicht mehr so oft, der Fluss ist manchmal nicht hoch genug, um Waren zu transportieren. Und je weniger es regnet, desto weniger Latex geben die Bäume ab.” Die Kinder tragen uns am Nachmittag ein Sprechgedicht vor, ich höre ein Kind zum ersten mal den Begriff “Biodiversität” in den Mund nehmen.

” I am the digital world
And I see clearly,
The fridges melting,
And the nature dying in the most perverse cruelty.

I am the animals,
I am in many places,
But I feel pressured because of the precautions I take.

I am the air that you breathe,
Sometimes I feel distant,
I am invisible but I am strong.

To make you live it is sufficient,
We are cruel, we must improve.
But if we don’t have means,
How can we preserve ?

The biodiversity is our wealth,
That we must cultivate.
We don’t have anywhere to go,
We need resources to improve our lives.

Nature is perfect,
And there’s nothing more beautiful.
We are born here,
And we thank you gratefully,
We need a future without too many worries.

Hello to everybody, 
Listen and be careful,
We are going to talk about our planet
Which stands without protection”

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Die letzte Nacht bricht herein, ich lege mich in meine Hängematte und kann nicht schlafen. Das liegt zum Einen an den unfassbaren Geräuschen, die der Regenwald Nachts zu bieten hat und zum Anderen am Hamster in meinem Kopf, dessen Rad nicht bremsen will.

Der Regenwald ist zur Arena geworden, die Seringueiros die KämpferInnen darin. Es ist wie in einem schlechten Film. Wir sitzen alle in einem Auto, dessen Bremsen defekt sind und rasen in Höchstgeschwindigkeit auf das zu, wovor wir uns am meisten fürchten: den Tipping-Point.  Der Punkt, wo nicht mehr genug Bäume da sind, um genug Regen für den Wald zu produzieren und dieser sich unwiderruflich in trockene Savanne verwandelt.

Bitte Hamster, hör endlich auf zu laufen.

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Es ist Zeit die Seringueiros zu verlassen. Diese Menschen, die wildfremde Europäer in ihrem Zuhause wie Familie aufgenommen haben. Ich stampfe noch bisschen tölpelhaft durch den Lehm, bevor wir uns offiziell verabschieden. Jeder von uns darf ein paar Worte sagen, als ich dran komme, beginne ich unerwartet zu Schluchzen. Das liegt zum Einen daran, dass ich nah am Wasser gebaut bin, zum Anderen am Hamster. Der scheiß Hamster. Hat letzte Nacht nicht aufgehört zu rennen.

Zwischen Tränen und Schnappatmung bringe ich ein paar Worte raus, die zum Ausdruck bringen sollen, wie viel Respekt ich vor diesen Menschen habe. Nicht nur, weil sie die Fähigkeit haben, mich als Fremde so warm und herzlich aufzunehmen, sondern auch, weil sie diese unglaublich wichtige Aufgabe und Bürde tragen. Die Bürde, den Regenwald zu konservieren. Weil sie in der Arena stehen und kämpfen, Tag für Tag. Weil sie täglich eine Rüstung aufziehen, die ich nie tragen könnte.

Die Reise in den Amazonas hat mir so stark wie noch nie vor Augen geführt: unsere Kaufentscheidungen sind wichtig. Unser Konsum bedeutet Verantwortung. Jedes Produkt, das wir kaufen, ist ein Stimmzettel mit einer Tragweite, die wir uns kaum vergegenwärtigen können. Wir müssen anfangen, unserer Kleidung ethische Signifikanz zuzuschreiben und aufhören, die Kausalität, die den größten Problemen unserer Zeit und unseren täglichen Kaufentscheidungen zugrunde liegt, zu leugnen.

Danke Veja, dass ihr zeigt, dass Mode auch anders geht.

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Disclaimer: ich wurde auf die Pressereise nach Brasilien eingeladen, für diese und alle anderen Berichterstattungen erfolgte keine Vergütung.

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